Märchen - Vom Halten und Loslassen

Es war einmal eine Frau, die stand am Ufer eines Flusses. Sie hatte gehört, dass auf der anderen Seite das Leben einfacher sei, bunter, schöner, aufregender.
„Neuland“ hieß die Welt da drüben, und wer davon zu ihr gesprochen hatte, dem blitzten die Abenteuer aus den Augen.

 

Die Frau war nicht zum ersten Mal hier. Immer wieder mal hatte ihre Sehnsucht sie an dieses Ufer gelockt, an dem sie dann mit hängenden Armen gestanden war, zerrissen von der Mutlosigkeit und dem Traum vom ganz anderen Leben. Ängste und Zweifel hatten dann wie hungrige Ratten an ihr genagt und ein Chor von „Ja-aber-Stimmen“ ihr leises „Ich-möchte“ übertönt.

 

Sie war immer wieder umgekehrt und hatte sich, nicht ohne Erleichterung, still in die vertraute Eintönigkeit ihres gewohnten Alltags eingereiht.

 

Eine Weile hatte sie Schritt gehalten, doch die Unzufriedenheit mit dem, was sie tat und dem, was sie unterließ, hatte stetig zugenommen. Auch Die Betäubung durch ihre rastlosen Versuche, das Unbehagen auszuhalten, ließ beunruhigend nach.

 

Nun stand sie also wieder hier, und diesmal war es anders.
Sie hatte einen riesigen Rucksack gepackt mit Dingen, von denen sie sich beim besten Willen nicht trennen konnte. Er war so groß und so schwer, dass sie vom Tragen und Schieben und Ziehen schon einen großen Teil ihrer Kraft verbraucht hatte.

 

Aber diesmal wollte sie nicht mehr umkehren. Das „Neuland“ da drüben, das war ihr Ziel. Nun sah sie aber keine Brücke, kein Schiff, und an Schwimmen war gar nicht zu denken.

 

Sie erschrak, als plötzlich fast lautlos das kleine Boot des Fährmanns durch das Schilf glitt. Der Fährmann war ein eigenwilliger alter Kauz, der manchmal, und nur wenn er Lust hatte, Reisende übersetzte.

 

Er legte sein Boot an und starrte befremdet das sperrige Gepäck und dann die Frau an. „Hast du vor, dich hier mit deinem gesamten Hausstand anzusiedeln?“ schnarrte er nicht gerade freundlich.
Die Frau, die den Fährmann als einen Wink des Schicksals sehen wollte, schüttelte erleichtert den Kopf. „Nein, nein, ich möchte auf die andere Seite des Flusses, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich hinüber bringen würdest.“

 

Der Alte krächzte bissig auf: „Dich überzusetzen, wird wohl angehen; doch Neuland betritt man nur mit leichtem Gepäck.

 

Da wirst du dich erst noch von einigem verabschieden müssen.“…

Dieser Text stammt von der wunderbaren Autorin Inge Wuthe und ist hier im Original zu finden:
http://www.inge-wuthe.de/vonliebeundangst.htm